Die erste Runde der WM 2010 ist gespielt, und gestern hat sich auch noch der Gastgeber höchstwahrscheinlich aus dem Turnier dilettiert. Maradona ist noch auf freiem Fuß und Sepp Blatter noch nicht zum Häuptling der Ukulukus gekrönt, wir dafür aber auch noch nichtWeltmeister. Kommt aber sicher alles bald, haben wir doch bisher die überzeugendste Vorstellung aller Mannschaften abgeliefert. Ich jedenfalls habe alle Spiele bis auf eins live verfolgt und nehme mir nun Zeit für ein erstes ausführliches, semi-profundes Fazit dieser WM in sechs Punkten. Die Hirngerechte Gestaltung ist schließlich seit heute offizieller WM-Blog-Tipp von PCWelt.de und spätestens jetzt dem seriösen Sportjournalismus verpflichtet.
  1. Es ist leider unübersehbar: Defensive dominiert die Spiele wie einst Netzer den Raum. Es zeigt sich, dass auch durchschnittlich bis schwach besetzte Mannschaften mittels preußischer Disziplin, einem stimmigen defensiven Konzept und echter Leidensfähigkeit jeden noch so überlegenen Favoriten zu einem Unentschieden zwingen können. Beeindruckend zu sehen, wie echte Fußballliliputaner wie die Nordkoreaner ihre haushoch favorisierten Gegner an den Rand der Ratlosigkeit bekommen. Und das gänzlich ohne unfaire Mittel (da die daraus resultierenden Standards auch viel zu gefährlich wären). Irgendwann sahen die sonst so markanten Brasilianer alle gleich verschwitzt, aber auch gleichermaßen unglücklich aus wie ihre für unsere Augen leicht verwechselbaren Gegner. Ähnliches war zu beobachten bei den Stellungskriegen Italien-Paraguay oder Frankreich-Urugay. Es braucht also anscheinend nur einen ausgefuchsten, autoritären Trainer und elf hochmotivierte fitte Athleten, um heute im Weltfußball nicht unterzugehen. Und dadurch ziehen viele Spiele ihren Reiz gänzlich aus der unkaputtbaren Spannung, ob das eine Tor noch fällt oder nicht. Belustigt beobachte ich Familien, die gelangweilt Algerien-Slowakei im Biergarten schauen und sich fragen, was da 2006 eigentlich so attraktiv an diesem Sport war.
  2. Den „großen“ Mannschaften mit ihren edel besetzten Offensiven fällt im Gegenzug zu wenig ein. Das vielzitierte Spiel über die Außen wird gegen eine im faschistischen Flankendreieck (Außenverteidiger, Mittelfeldspieler und 6er bzw. Innenverteidiger) verteidigende Mannschaft wirkungslos. Ist der ballführende Spieler außen gestellt, ist der Angriff quasi beendet, ein müder Rückpass sichert den Ballbesitz oder es wird halbherzig an der Linie rumgestochert, um wenigstens einen Einwurf zu sichern. Viele Angreifer zeigen sich irgendwann ungeduldig bis entnervt und schlagen den Ball mehr oder weniger blind in die Mitte, wo er am ersten oder zweiten Verteidiger abprallt wie eine wohlmeinend Petition an der Bürokratie. Zudem kommt das verlorene Konzept der Kopfballstärke, die ihren Platz in der Sportgeschichte sicher hat: Die Defensive hat in allen Spielen die Lufthoheit behalten und hohe Flanken als probates Mittel zum Zweck damit quasi abgeschafft. Nur Ausnahmespieler, deren individuelle Klasse in 1zu1-Situationen deutlich herausragt wie Messi oder theoretisch auch Ribery, können über die Außen gefährliche Situationen schaffen, wenn sie am ersten Verteidiger mit Tempo und enger Ballführung vorbei gehen, um möglichst schnell in den Strafraum einzudringen. Auch Schleicher wie Müller, die durch geschickte schnelle Bewegung in den Rückraum des verteidigenden Dreiecks enge Situationen auflösen können, sind Gold wert. Den meisten Mannschaften fehlt es aber an genau solchen Überraschungsmomenten in den besungenen Schnittstellen einer doppelten Vierer- oder Fünferkette. Und da verteidigende Mannschaften heutzutage eigentlich immer mit mindestens fünfzehn Spielern hinter dem Ball stehen, ist kein Zentimeter platz für schnelle Vorstöße aus einem geordneten Aufbau heraus. Tristesse royale.
  3. Gleichzeitig sind die Spanier (und mit Einschränkungen die Deutschen) bisher die einzigen, die über ein echtes Kurzpassspiel auch die Mitte für valide Angriffe nutzen können. Dazu braucht es aber Spieler, denen man aus fünf Metern den Ball Vollspann aufs Schienbein schlagen kann, ohne dass er ihnen auch nur einen Zentimeter wegspringt (Iniesta, Villa, Xavi, Torres oder auch eben Özil). Und die hat eben fast keine Mannschaft auf genügend offensiven Positionen. Deswegen mühen sie sich zu knappen Ergebnissen oder Unentschieden, hoffen auf Standards und vor allem Torwartfehler: Die Torhüter der „kleinen“ Mannschaften fallen bisher aus der homogenen Leistungsdichte raus (England zähle ich natürlich dazu). Wenn diese Position in der Zuunft noch optimiert wird, machen kleine Mannschaften gar keine Fehler mehr. Und große keine einfachen Tore.
  4. Daraus resultieren, besonders wenn zwei gut organisierte, aber wenig kreative Mannschaften aufeinander treffen, ein ziemliches Geklopfe und Gegrätsche, das anmutet wie Bezirksligabstiegskampf (ich war dabei, ich weiß wovon ich spreche). Gerade wenn, wie die Italiener gegen Paraguay, eine Mannschaft den Sieg erzwingen will, ihr jedoch jegliche kreativen Mittel fehlen, und die andere weiß, dass sie einfach nur noch ein paar wenige Minuten länger die Bälle wegstochern muss, um wichtige Punkte mitzunehmen. Da rasseln Sportler mit solcher Wucht und so wenig Koordination und Sinn ineinander, dass mich die geringe Verletztenquote bisher überrascht. Löblich, dass kein Ball verloren gegeben wird. Wenn er aber ständig unpräzise zwischen die Kontrahenten gespielt und gestoppt wird, ergeben sich zwangsläufig endlose Zweikämpfe und Spielverstopfungen. Dazu noch hohe Bälle, weil am Boden kein Platz ist, und ein Spielgerät, das anders und dynamischer springt und hoppelt als gewohnt, und voilá: Abnutzungskampf.
  5. Was andererseits wenig Spaß macht zu sehen sind so manche blutleere bis unmotivierte Auftritte. Was Frankreich oder auch England gespielt haben, war eine wenig schmeichelhafte Mischung aus nichtkönnen und nichtwollen, die einer WM nicht würdig ist. Gerade wenn eine Mannschaft nach 25 anstrengenden Minuten merkt, dass das hier kein Vorrundenspaziergang wie in der Qualifikation wird, macht sich oft eine gewisse Unlust breit, als ginge es um den Franz-Beckenbauer-Cup. Aber auch hier wieder ein schöner Lichtblick: Das bekiffte Eichhörnchen (Özil), der Kreisliga-König (Müller) und der schizophrenste Spieler der Welt (Poldi). Da stimmen Spielfreude, Einsatz und Effizienz.
  6. Trotzdem: Ein großes Turnier, gerade weil es so eng ist wie noch nie. Nur eine einzige Mannschaft konnte ihren Vorrundenauftakt wirklich deutlich gewinnen (ja, Deutschland), Argentinien dominierte, brillierte aber nicht, alle anderen kamen höchstens zu Arbeitssiegen. Eine Überraschungstruppe zeichnet sich genauso wenig ab wie ein klarer Favorit oder, nehmen wir Honduras und den Gastgeber mit seinem zweiten Spiel mal raus, eine völlig chancenlose Truppe. Das macht die Vorrunde so spannend wie noch nie, und das bei einer WM, die wieder zahlreiche vermeintliche Exoten integriert.
Insgesamt also genug Stoff für echte Fußballfans, jedoch keine WM für´s Volk. Macht mir nichts, ich werde weiterhin treu jedes Spiel schauen, denn spätestens beim dritten Gruppen(end)spiel wird es auch emotionale Höhepunkte geben. Und ich freue mich schon auf die raren Momente, wenn spielerische Geistesblitze 80 Minuten Taktik passé machen.